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Survival of the Smartest: Fehlt es uns an Lernkultur?


Woman reading a book

In Zeiten des kontinuierlichen Wandels nimmt die Fähigkeit zu Lernen eine Schlüsselkompetenz ein. Das heißt, wenn die erfolgreiche Digitalisierung einen elementaren Wettbewerbsvorteil für jede Organisation und Nation darstellt, stellt die Lernkultur den Herzschlag der Gemeinschaft dar. Und doch lösen Begriffe wie z. B. Lebenslanges Lernen (engl. Lifelong Learning) bei vielen Erwachsenen ein quälendes Gefühl in der Magengrube aus. Wieso verlieren wir die Lust am Lernen und damit unsere Wettbewerbsfähigkeit? Und wie holen wir sie uns wieder?


Little Napoleon statt Pippi Langstrumpf


Wenn wir über Lernkultur sprechen, müssen wir uns anschauen, wie wir lernen zu lernen. Unbekannten Situationen begegnen unsere Kinder mit Erkundungslust, Ideenreichtum und Begeisterung. Von Geburt an sind wir neugierig, lernen spielerisch und in fast schon kometenhafter Geschwindigkeit. Doch dem kindlichen Durst nach Neuem weicht bald die Übersättigung. Denn nach Jahrzehnten der oktroyierten Wissensvermittlung unter Druck scheint der Frust bald grösser als der Spaß am Lernen. Lehrpläne sollen den Erwerb überdauernder Kompetenzen sicherstellen. Fächerübergreifende, praxisbezogene Projekte gehören jedoch kaum zum Alltag unserer Kinder. Überdauernd ist daher ein dehnbarer Begriff. Bis zur nächsten Klausur scheint eher der Realität zu entsprechen.


Doch wieso bringt das stupide Auswendiglernen nicht den erhofften Langzeiterfolg? Interessant ist dabei doch eigentlich, was wir in der Schule nicht lernen: das Warum. Der Sinn und die kontextbezogene Logik hinter Mathe, Biologie oder Physik. Uns fehlt ein Verständnis dafür, was uns als Menschen ausmacht und warum Lernen weit mehr zum Ziel hat als Geldverdienen und Status. Der 2019 veröffentlichte Bildungsmonitor attestiert uns schließlich steigende Schulabbrecherzahlen. Alarmierende Tendenzen, doch der Aufschrei ist ausgeblieben. Die Köpfe sind voll, doch der Nachwuchs ohne Orientierung. Die Frage ist, ob unsere Bildungseinrichtungen ein positives Selbstbild im Bezug auf Lernen vermitteln oder eher langanhaltende Aversionen befeuern.


Die Lust am Lernen


Viel zu selten ist uns bewusst, dass unser Gehirn eine echte Hochleistungsmaschine ist. Zu verhindern, dass unser gesundes Gehirn lernt, ist schlichtweg unmöglich. Tatsächlich macht unser Gehirn nichts lieber als Lernen. Und so lernen wir ständig dazu. Selbstverständlich besitzen Erwachsene nach wie vor einen inneren Spieltrieb und versuchen ihren Informationshunger, also das Bedürfnis ihres Gehirns nach neuen Synapsenverbindungen, zu stillen. Nach einer spontanen und sicherlich nicht repräsentativen Umfrage in meinem Netzwerk haben sich zwei unterschiedliche Lerntypen herauskristallisiert:


Typ A - die/der HobbysammlerIn: Erwachsene, die persönliche (Weiter-)Entwicklung im Privatleben suchen und häufig gleich mehrere Hobbies pflegen. Im Job suchen sie eher das Konstante und Berechenbare, nicht zwangsweise nach Erfüllung. Ein Beschäftigungsverhältnis stellt vor allem die Haupteinnahmequelle dar. Berufliche Weiterbildung wird als notwendig, aber selten als Incentivierung betrachtet. Anreize werden eher durch Freizeit- und Freiheitselemente gesetzt, wie Überstundenabbau oder Home Office.


Typ B - die/der Leidenschaftliche: Erwachsene, die ihren Beruf eher als Berufung verstehen und ihr Lernbedürfnis begierig im beruflichen Kontext stillen. Dies muss nicht während der Arbeitszeit geschehen. Durchaus überträgt sich die Leidenschaft in den Feierabend, in Form freiwilliger Weiterbildungen und fachverwandte Projekte. Trainingsangebote stellen eine starke Incentivierung dar. Es werden dabei hohe Ansprüche an die betriebliche Weiterbildung gestellt.


Beiden Typen stellen eine bewusste Verallgemeinerung da, um weiterführende Gedanken zu veranschaulichen. Während die Transformation der Arbeitswelt fortschreitet, werden Organisationen einerseits vor die Herausforderung gestellt ihre Teams auf neue Arbeitsabläufe, Geschäftsmodelle und Berufsbilder vorzubereiten und andererseits die Teile der Organisation zu überzeugen, die dem Paradigmenwechsel kritisch gegenüberstehen. Ein Kraftakt, ohne Frage. Doch die Digitalisierung ruft auch das Thema Employability auf den Plan. Employa-was? Mit Employability ist unser Marktwert gemeint, also die Fähigkeit als Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Die Verantwortung diese sicherzustellen liegt sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Arbeitnehmer.


In einer aktuellen, von PTC in Auftrag gegebenen Umfrage mit über 900 Teilnehmern auf Computerwoche.de gaben lediglich 19 % der Teilnehmer an, dass fachliche und persönliche Entwicklung elementarer Bestandteil der Unternehmenskultur sei. Noch viel frappierender ist die Erkenntnis, dass fast 66 % der Befragten angaben, dass fachliche und persönliche Förderungsmaßnahmen vom Engagement der direkten Führungskraft abhängen und nicht von der persönlichen Eignung, geschweige denn von den Anforderungen des zukünftigen Arbeitsmarktes. Insbesondere Typ A droht hier den Anschluss an zukünftige Anforderungen zu verlieren!


Zu argumentieren, dass Unternehmen und Privatpersonen in Deutschland zu wenig in Aus- oder Weiterbildung investieren wäre übrigens falsch. 27 Milliarden Euro werden pro Jahr in Weiterbildungsmaßnahmen investiert, so eine Bertelsmann Langzeitstudie. Die Investitionen versickern jedoch oft effektlos, da das neue Wissen kaum praktische Anwendung und somit kaum den Weg ins Langzeitgedächtnis findet. Hier droht Typ B, der unter Umständen sogar private Mittel in die eigene Weiterbildung investiert, bei mangelnder (Be-)Förderung zu resignieren oder schlimmstenfalls abzuwandern.


Die Annahme, dass das Geschäft mit der beruflichen Bildung in Deutschland vor allem eines ist, ein Geschäftsmodell, scheint durch eine weitere Erkenntnis unserer Umfrage gestützt zu werden: Nur 3 % der Umfrageteilnehmer bestätigten, dass Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen darauf abzielen dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Die Vermutung liegt nahe, dass Bildungsangebote eher als Employer-Branding-Argument genutzt werden, als Bestandsmitarbeitern rechtzeitig relevante Schlüsselqualifikationen für freiwerdende oder neu entstehende Berufsbilder zu vermitteln, geschweige denn sie an persönlichen Entwicklungszielen auszurichten. Oder es fehlt schlicht ein schlüssiges und nachhaltiges Weiterbildungskonzept innerhalb deutschen Unternehmen.


Kompetenzen für die Zukunft


In einer 2018 veröffentlichten Analyse des Stifterverbandes und McKinsey "Future Skills: Welche Kompetenzen in Deutschland fehlen" wird ein Weiterbildungsbedarf von 2.4 Millionen Erwerbstätigen berechnet. Der Weiterbildungsbedarf erstreckt sich branchenübergreifend auf drei Kategorien an Fähigkeiten. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass sich innerhalb der nächsten 10 Jahre der Anteil der Arbeit verdoppelt, der technisches Wissen voraussetzt, erscheinen die obengenannten 3 % alarmierend niedrig. Zusätzlich wird ein Bedarf an über 700.000 IT- und Tech-Spezialisten bis 2023 ermittelt.



Quelle: Grafik angelehnt an Future Skills Framework, Stifterverband, McKinsey


Beide Mitarbeitertypen, A und B, können durch ihre eigenen Anstrengungen im Bereich der nicht-digitalen Schlüsselqualifikationen gut aufgestellt sein, doch schon bei den digitalen Schlüsselqualifikationen (bspw. Agiles Arbeiten, digitale Grundkompetenzen) könnte Typ A zurückfallen. Um technischen Fachwissen zu erlangen und nachhaltig im Berufsalltag zu implementieren, benötigen beide Typen Anleitung, Investitionen und Freiraum.


Selbstverständlich müssen nicht alle Mitarbeiter Data Scientists sein, um auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft zu bestehen und die Wettbewerbsfähigkeit Ihres Unternehmens zu sichern. Doch alle drei Kernbereiche unterliegen einer fortwährenden Dynamik. Nun fragen Sie sich vielleicht, welche Maßnahmen Mitarbeiter und Führungskräfte dazu animieren die oben aufgeführten Qualifikationen aufzubauen und weiterzuentwickeln. Die schlechte Nachricht ist, mit ein paar Maßnahmen ist es nicht getan.


Von Feel-Good-Angeboten zum echten Kulturwandel


Der Aufbau einer gesunden und lebendigen Lernkultur ist ein Gemeinschaftsprojekt. Jeder trägt dabei seine Verantwortung. Heute werben Unternehmen oft mit teuren Lernplattformen oder umfangreichen Weiterbildungskatalogen. Ein Marketing-Coup, denn paradoxerweise scheinen nicht alle Führungskräfte dies stets zu unterstützen. Was wir brauchen, ist ein echter Kulturwandel. Füllen wir die HR-Hülle mit Leben! Im Folgenden werden Ansätze vorgestellt, wie Lernangebote sinnvoll in der Unternehmenskultur und -strategie verankert werden können.


Gemeinsam im Team über Zukunft sprechen: Wie wird sich unser Geschäft und unsere Arbeit durch den digitalen Wandel verändern? Und was macht das mit uns? Lenken Sie den Fokus nicht auf Horrorszenarien, wie den Jobverlust, sondern eher auf die Möglichkeiten und Chancen des Wandels. Setzen Sie gleichermaßen auf Aufklärung und Orientierung.


Entwicklungsbedarf(e) ansprechen: Wird ein Bereich in den kommenden Jahren an Automatisierungsgrad gewinnen oder an strategischer Bedeutung verlieren? Wenn ja, sprechen Sie nicht nur hinter geschlossenen Türen innerhalb der Führungsmannschaft, sondern mit den Mitarbeitern offen darüber, wie deren Employability sichergestellt werden kann.


Lernen ist stets individuell: Finden Sie heraus, wie ihre Mitarbeiter lernen und bieten Sie entsprechende Angebote an. Unterstützen Sie diese finanziell oder zeitlich. Versuchen Sie es im nächsten Workshop einfach mal mit Lego Serious Play oder Rapid Prototyping! Noch nie davon gehört? Dann liegt hierin schon die erste Möglichkeit spielerisch dazuzulernen. Verstehen Sie, wie Ihre Organisation lernt! Zur Not mit externer Hilfe.


Bauen Sie Lernangebote wiederkehrend in den Joballtag ein: Haben Sie schon mal einen unternehmens- oder abteilungsübergreifenden Hackathon veranstaltet oder einen Ideenwettbewerb ausgerufen? Setzen Sie immersive Technologien, wie Augmented oder Virtual Reality ein, um dicke Handbücher durch eine viel tiefgreifendere Experience zu ersetzen? Es gibt zahlreiche Möglichkeiten bestehende Prozesse und neue Projekte durch frische Lernimpulse anzureichern - auch bei kleinen Budgets.


Raus an die frische Luft: Ein Tapetenwechsel kann Wunder wirken! Stimulieren Sie die Lernbereitschaft ihrer Mitarbeiter, in dem Sie aus dem Gewohnten ausbrechen. Besuchen Sie Museen, wie das Futurium in Berlin, oder veranstalten Sie ein Spiele-Afterwork mit einer anderen Abteilung.


Vermeiden Sie ungesunden Wettbewerb: Lernen ist etwas sehr Intimes. Jeder lernt anders und in seiner eigenen Geschwindigkeit. Wettbewerbe sind in Ordnung, solange Teams gegeneinander antreten. Direktes Kräftemessen kommt nicht bei allen gut an und kann dazu beitragen, dass einige Kollegen und Kolleginnen sich Neuem gegenüber komplett verschließen.


Lernziele hinterfragen: Es mag paradox klingen, doch die unaufhörliche Suche nach Bestätigung und Anerkennung macht vor nichts Halt. Ermutigen Sie Ihre Mitarbeiter (und sich selbst) daher das eigene Entwicklungspotenzial ins Visier zu nehmen und Lernerfolge individuell immer wieder neu zu bewerten. Denn wer darin verfällt sich stets an anderen zu orientieren, wird sein eignes Potenzial weder korrekt identifizieren noch vollkommen ausschöpfen.


Als Beispiel vorangehen: Blocken Sie sich als Führungskraft aktiv Zeit für eLearnings oder Trainings anderer Art (bspw. ein Tag pro Monat / 2 h pro Woche) und kommunizieren Sie dies aktiv ans Team. Achtung: hierbei sollten sie die gleichen Privilegien und Zugänge zu Trainings genießen, wie das Team, sonst kommt schnell Unmut auf!


Holen Sie sich Feedback ein: Seien Sie offen für Feedback und Anregungen. Die Erfahrung zeigt, nach anfänglicher Skepsis bringen Teammitglieder gern neue Ansätze und Ideen ein. Lassen Sie diese zu und ermöglichen Sie Ihren Teams auch sich selbst zu organisieren.


Lernen und das dynamische Selbstbild


Als Erwachsene fragen wir Kinder, was sie später werden wollen. Alte Menschen fragen wir nach den Menschen, die sie einmal waren. In Mitarbeiter- und Einstellungsgesprächen fragen wir schließlich Erwachsene, was sie in drei bis fünf Jahren sein wollen. Als ob das Hier und Jetzt nicht genug wäre. Als ob wir als Menschen irgendwann "fertig" sein müssten oder einem Ideal entsprechend.


Der Optimierungsdruck verfolgt uns früh. Vielleicht liegt hier auch das Problem. Wir verstehen Lernen nicht als Teil unseres Selbst, sondern als etwas Auferlegtes. Unser Selbstbild wird ständig infrage gestellt, also geben wir unser Bestes uns anzupassen. Sprechen Sie deshalb nicht von Lifelong Learning. Der Begriff assoziiert bei den meisten Menschen Anstrengung, Druck und Verpflichtung. Bringen wir unseren Mitarbeitern eine Denkweise bei, in der Menschen beginnen über ihre Stärken und Schwächen ernsthaft nachzudenken ohne vor sich selbst davon zu laufen; und dies nicht erst dann, wenn sie im halbjährlichen Personalgespräch darum gebeten werden.


Es geht vielmehr um das Verständnis, dass wir als Menschen dynamisch und unaufhörlich dazulernen, ob wir es wollen oder nicht, und es in unserer Macht liegt, was wir unserem Hirn zu essen geben. Wie bei einer ausgewogenen Ernährung. Growth Mindset ist der Glaube an uns selbst und dass wir unser Schicksal, den Schlüssel zum Erfolg, selbst in der Hand haben. Fragen wir also nicht "Wo siehst du dich in fünf Jahren?", sondern "Was macht dich neugierig?" oder "Was treibt dich an?".


Solange wir existieren, entwickeln wir uns. Richten wir diese Entwicklung an der Zukunft aus und machen wir sie so angenehm, spielerisch und natürlich, wie wir es als Kinder tun.


Quellen:

ZEIT ONLINE (2019): Zahl der Schulabbrecher steigt

Springer Professional (2019): Unternehmen und Mitarbeiter zahlen mehr für Weiterbildung McKinsey & Company (2018): Massiver Bedarf an Technologiespezialisten und Weiterbildung bis 2023

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer (2012): Wie lernen Kinder? Aktuelles aus der Gehirnforschung

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